Ob sie’s schaffen, dieses Jahr?

Liebe Geschwister,
Ihr seht die Weihnachtskrippe, wie wir sie gewohnt sind. In der Mitte der kleine Stall, kaum mehr Platz in ihm als für die Weihnachtsgeschichte. Am Futtertrog Ochs und Esel. Auf der einen Seite warten die drei Weisen oder Könige, auf der anderen Seite stehen Hirten. Alles wie gewohnt? Da ist eine Lücke im Stall: Maria, Josef und Jesus fehlen.
Die Könige: ratlos. Die Hirten: murrend. „Wo sind sie denn?“ Der Ochse weiß Bescheid: „Kontaktbeschränkungen, Ausgehverbot, Grenzkontrollen, Beherbergungsverbot – sie haben es einfach nicht geschafft!“ In diesem Jahr ist alles anders.
Und bei Euch, liebe Geschwister? Auch alles anders? Weniger Gäste, weniger Besuche zum Fest? Kirchenbesuch – wenn überhaupt – nur mit Platzkarte und Abstand. Vor allem: Nicht die ganze Familie.
Ist es da schlimm, wenn die heilige Familie im Stall fehlt? Oder könnt ihr damit leben? Was würde Euch fehlen? …

Die Weihnachtsgeschichte nach Lukas enthält eine Vorgeschichte, eine Geschichte vom fehlenden Kind. Die Eltern sind da – Zacharias und Elisabeth –, ihre Ehe war kinderlos geblieben. Sowas ist heute schlimm für die Betroffenen, damals war’s noch schlimmer.
Ein Engel kommt zu Zacharias – hier bekommt der Vater zuerst die Nachricht, anders als bei Maria und Josef ein paar Zeilen später – und verkündet: „Deine Frau Elisabeth wird dir einen Sohn gebären“. Zacharias meint es besser zu wissen: „Bei meiner Frau sind die Wechseljahre schon vorbei … und bei mir, ich bin schon alt …“
Der Engel bringt ihn zum Schweigen. Buchstäblich: Bis zur Geburt des Kindes bringt er kein Wort heraus. Doch dann sprudelt es aus ihm heraus, was in unseren Kirchen an diesem dritten Advent Predigttext sein soll:
»Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er ist seinem Volk zu Hilfe gekommen und hat es befreit. Er hat uns einen starken Retter gesandt, einen Nachkommen seines Dieners David. So hat Gott es von jeher angekündigt durch den Mund seiner heiligen Propheten – einen Retter, der uns befreit von unseren Feinden und aus der Gewalt aller, die uns hassen. Damit hat Gott auch unseren Vätern seine Barmherzigkeit erwiesen. Er hat an den heiligen Bund gedacht, den er mit ihnen geschlossen hat. Ja, er hat an den Eid gedacht, den er unserem Vater Abraham geschworen hat: uns aus der Hand von Feinden zu retten. Dann können wir ohne Angst Gottesdienst feiern – heilig und nach seinem Willen, in seiner Gegenwart, solange wir leben.
Aber auch du, Kind, wirst ein Prophet des Höchsten genannt werden. Du wirst dem Herrn vorangehen und die Wege für ihn bereit machen. Du schenkst seinem Volk die Erkenntnis, dass der Herr es retten will und ihm die Schuld vergibt. Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen. Darum kommt uns das Licht aus der Höhe zur Hilfe. Es leuchtet denen, die im Dunkel und im Schatten des Todes leben. Es lenkt unsere Füße auf den Weg des Friedens.« (Lukas 1, 69 – 79)

Ein unglaublich dichter Text, wenn Ihr nicht alles auf Anhieb verstanden habt, so liegt das nicht an Euch. Zacharias war sein Leben lang Priester und hat den Text gespickt mit Verweisen auf die Heiligen Schriften, auf Psalmen und Prophetenreden. Und war, als er den Text aufsagte – oder als der aus ihm hervorsprudelte –, erfüllt von Gottes heiliger Geisteskraft. Ich glaube sogar: Vielleicht hat er, solange seine Frau schwanger war, an diesem Text gebastelt. Der Aufbau ist jedenfalls kunstvoll: die Schlüsselbegriffe Besuch, Volk, Heil, Propheten, Feinde, Hand und Volk umrahmen die Kernaussage in der Mitte. „Gott hat an den Eid gedacht, den er geschworen hat“. Und in dieser Kernaussage steckt sogar noch ein Wortspiel mit den leicht abgewandelten Namen der Eltern, vielleicht Namen, mit denen sie sich untereinander riefen. Statt Zacharias Sercharja, auf deutsch „der Herr hat gedacht“, statt Elisabeth Elischewa „mein Gott hat geschworen“.
Ich will jetzt keine zwei Stunden den Text zerpflücken, bis wir das meiste verstanden haben. Ich komme direkt zur Zusammenfassung:
Die Texte der Psalmen und der Propheten, die Zacharias zitiert, sprechen alle voller Lob und Dank von Gott, dem Retter und Erlöser. Sie danken Gott, dass er auch in der Not treu an seinen Bund mit seinem Volk denkt. Sie danken ihm, dass er seinem Volk nicht fernbleibt, dass er sich ihm zuwendet, dass er es besucht – auch im Dunkel. Sie danken und loben Gott, dass er einen starken Retter geschickt hat inmitten aller Not. Sie danken für die Rettung aus der Hand der Feinde, die das Volk hassen. Sie danken Gott für seine Barmherzigkeit, für sein Licht in der Finsternis, ja, sogar „im Schatten des Todes“.

Überwältigend ist die Treue und Güte des rettenden Gottes. Das sagt die Rede im Heiligen Geist. In vielen, vielen Situationen hat Gott geholfen. Entsprechend groß ist deshalb der Dank. Überwältigend ist Gottes Barmherzigkeit, Gott hat sich immer wieder als Retter und Erlöser erwiesen. Deshalb sind das Vertrauen zu Gott und die Hoffnung auf ihn groß und fest, leuchtend und voller Freude.
Die Sicht auf Gott und die Welt ist ganz anders, als wir es heute gewohnt sind. Gottes Allmacht ist nicht die Macht, uns eine Welt zu bereiten, in der alles immer reibungslos und immer unterhaltsam funktioniert. Die Welt ist nicht das Paradies. Denn die von Gott für „gut“ befundene Schöpfung ist doch total anders. Unser irdisches Leben ist endlich und sterblich. Es lebt unabdingbar auf Kosten von anderem Leben. Und es ist nicht nur voll von Leid und Not. Es ist auch voller Bosheit und Hass, Feindschaft und destruktiver Gewalt.
Die Allmacht Gottes besteht nun darin, uns Menschen auf die guten Wege der Liebe, der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit, der Freiheit und des Friedens zu führen. Gottes Allmacht ist die Macht, auch aus Leiden und Not Neues und Gutes zu schaffen. Die Erfahrung des Guten – die lange nicht mehr erhoffte Geburt eines Kindes, das Wiedergewinnen der Sprache - löst nun, vom Heiligen Geist erfüllt, überwältigende Dankbarkeit und Freude aus.

Das wünsche ich Euch, für Weihnachten und die Tage bis dahin, dass ihr das Kind erwartet, das Euch und die Welt verändert. Dass die Lücke gefüllt wird, die in diesem kleinen Papiergebäude noch offen ist. Dass ihr dankbar werdet und froh.
Bleibt behütet!

Das Lied dazu: „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11) von Paul Gerhardt mit der Melodie von Johann Crüger (beides 1653).
Die Idee zur Krippe ohne die Heilige Familie habe ich von einer Karikatur von Kurt Stuttmann in der taz vom 8. Dezember. Die Krippe aus Papier, aus der ich ein Stück herausgeschnitten habe, war ein Geschenk der Stiftung Marburger Medien. In meinem Text sind auch Ideen und Sätze von Prof. Dr. Michael Welker (2016) und Pfr. Dr. Michael Volkmann (2012).