Wo ist Gott?

[Auf dem YouTube-Kanal der Gemeinde am Samstag, 2. Januar, 18:00]

Zweiter Sonntag nach dem Christfest: Lukas 2, 41 bis 52

Wir sind zusammen im Namen unseres Gottes, Vater und Mutter, im Namen des Sohnes, Herr und Bruder, im Namen der Heiligen Geisteskraft.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes – diese Formel spreche ich bei jeder Taufe. Hier ist die Taufschale aus der Auferstehungskirche, in der nun nicht mehr getauft werden wird. Die Taufschale kommt zur Kleinen Kirche. Dorthin bringen wir in den nächsten zwei Wochen auch den großen Taufstein, den Abendmahlstisch und das Lesepult. Dort werden sie unterhalb der Kirche aufgestellt für Gottesdienste im Freien.

Da können wir dann vielleicht auch bald wieder Abendmahl feiern. Die kostbaren Geräte aus der Auferstehungskirche – Patene, Kelch und Kanne – bringen wir immer dorthin, wo viele Menschen sie benutzen können.

Das Kreuz aus der Auferstehungskirche soll hier im Gemeindehaus aufgehängt werden – wenn viele Menschen diese Räume bevölkern, werden wir den schönsten Platz dafür finden.

So macht es diese Gemeinde nicht zum ersten Mal. Wenn eine Kirche aufgeben werden muss, wird wesentliches, was uns an sie erinnern kann, an anderen Orten der Gemeinde bewahrt. Dinge aus der ehemaligen Großen Kirche finden wir heute an der Kleinen Kirche und hier an der Versöhnungskirche.

Bis wir uns an die neuen Orte gewöhnt haben – das braucht Zeit. Und wahrscheinlich wird das Gefühl des Verlustes uns dabei begleiten, das Nicht-Wissen, ob wir einen neuen gemeinsamen Ort für drei Bezirke gefunden haben. Und manche, so weiß ich, verlieren mit der Auferstehungskirche den Ort, der für sie ein Gottes-Ort war, haben unter Umständen Angst, Gott nicht mehr zu finden.

Der Predigttext des Sonntags – nicht von mir ausgesucht – ist eine Geschichte auch vom Verlieren und Wiederfinden.

Ich lese aus der Altarbibel der Auferstehungskirche Lukas zwei, einundvierzig bis zweiundfünfzig. Lukas hat die Weihnachtsgeschichte erzählt, dann von der Beschneidung des jüdischen Jungen und von zwei Begegnungen des Kleinkinds im Tempel.

Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

Zwei Fragen stellt die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus: Wo ist das Kind? Und: Wo ist der Vater?

Das Kind ist verloren gegangen. Ein Alptraum für alle Eltern. Sie waren zusammen mit ihrem ganzen Dorf auf der Rückreise von Jerusalem. Einen Zwölfjährigen kann und soll man nicht an sich binden. Man muss riskieren, dass er in der Welt verloren geht. Jede Mutter kennt den Stoßseufzer Marias: „Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht.“

Wo aber ist der Vater? Jesus provoziert mit seiner Antwort die Eltern: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Er ist geborgen im Tempel, wo Gott sein Vater ist! Wenn alle Kinder einen Vater hätten, den sie überall in der Welt finden können, könnte man sie ruhig frei laufen lassen. Dann gehen sie nicht verloren.

Unsere Geschichte ist eine Legende. In ihr klingen viele Dichtungen von Wunderkindern nach. Vom zwölfjährigen Enkel eines Pharaos heißt es: „Er übertraf den Schreiber, der ihn unterrichten sollte.“ Und „begann zu sprechen mit den Schreibern des Lehrhauses im Tempel …; alle die ihn hörten verwunderten sich sehr.“ Vom persischen König Kyros und dem großen Alexander gibt es in der Zeit von Jesus schon lange vergleichbare Geschichten.

Kindheitsgeschichten sagen, worum es den Großen in ihrem Leben später gegangen ist. Auch Jesus wird ein Reich begründen, ein anderes Reich als das der Pharaonen, der Perser und des Alexander. Worum geht es in seinem Reich? Jesus geht es um die Nähe Gottes. Er bringt Gottes Gegenwart. Er stellt die Frage: Wo ist Gott zu finden?

Unsere Legende sagt zunächst wörtlich: Gott ist im Tempel! Aber diese Worte sind mehrdeutig. Jesus spricht nicht vom Tempel, sondern sagt: „Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Er gehört dorthin, wo der Vater ist – wo dessen Bereich oder Besitz beginnt. Er diskutiert mit den Weisen. Dá ist der Tempel Gottes.

Die Geschichte sagt also genauer: Gott ist, wo Menschen zusammenkommen, um Gott zu feiern, ihn mit Liedern zu loben, ihm Gaben zu bringen, zu ihm zu beten.

Den Weg dahin zeigt Lukas auch. Da ist der übliche Weg von Maria und Josef. Regelmäßig machen sie sich auf den Weg in den Tempel, nehmen ihr Kind mit. In der Geschichte heute noch ein anderer Weg. Das Kind geht verloren. Der Verlust versetzt in Schrecken und Angst. Der Plan des Lebens wird gestört. Man muss umkehren. Lukas sagt damit: Man findet Gott erst, wenn man meint, ihn verloren zu haben. Die Nähe Gottes erreicht niemand ohne diese Angst. Aber dann sagt Lukas beruhigend: Suche sie dort, wo sie der Tradition nach zu finden ist, im Tempel, bei den Lehrern Israels. Suche sie dort nicht nur in Kult und Musik, Meditation und Ekstase, im Wald, wo er nach Meinung mancher sonntagmorgens besser zu finden sei als in der Gemeinde.

Der Dichter, Schriftsteller und Journalist Heinrich Heine hat viel über Gott und die Religion gelästert, aber am Ende kehrte er zu seinem jüdischen Glauben zurück. Er schreibt, er verdanke diese Rückkehr einem Buch – ich lese aus „Religion und Philosophie in Deutschland":

Dieses Buch heißt auch ganz kurzweg das Buch, die Bibel. Mit Fug nennt man diese auch die Heilige Schrift; wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buche wiederfinden, und wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes.

Auch Heine verband dieses Buch mit dem Tempel. Er schreibt weiter:

Die Juden, welche sich auf Kostbarkeiten verstehen, wußten sehr gut, was sie taten, als sie bei dem Brande des zweiten Tempels sogar den hohepriesterlichen Brustlatz mit den großen Edelsteinen im Stich ließen und nur die Bibel retteten.

Gottes Gegenwart kann man mit Hilfe von Jahrtausenden religiöser Erfahrung, wie sie in diesem einen Buch dokumentiert sind, wiederfinden. Aber das ist nur der Anfang.

Gott ist überall, wenn man ihn einlässt. Die Bibel hilft uns mit ihren Geschichten und Legenden, dass wir Gott einlassen – damit wir ihn überall sehen und die Dunkelheit aushalten, wenn wir ihn nicht sehen. Aus der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel können wir lernen: Niemand findet Gott, wenn er ihn nicht vorher verloren hat. In Jesus ist er da. Dieser Jesus kommt uns immer wieder abhanden. Aber er kann nicht verloren gehen. Er ist dort, wo Gott ist. Durch Jesus können wir lernen, dass er überall ist, auch in Einsamkeit, Schuld und Tod, aber auch in der Verpflichtung zur Wahrheit, im Mut zum Leben und im Antlitz des anderen Menschen, wenn es in Liebe aufleuchtet. Dann werden wir zu Kindern Gottes und können in allen Menschen seine Kinder sehen.

Lied „Herbei, o ihr Gläubigen“, Strophe 3 [Text von Friedrich Heinrich Ranke 1826, Melodie wohl von John Reading vor 1681, EG 45]

Kommt, singt dem Herren,
o ihr Engelchöre,
frohlocket, frohlocket, ihr Seligen:
Ehre sei Gott im Himmel und auf Erden!
O lasset uns anbeten, o lasset uns anbeten,
o lasset uns anbeten den König!

Gebet
für die Menschen, die mit Angst in das neue Jahr gehen in unserer Gemeinde: Angst um ihre Gesundheit, um die ihrer Lieben, wegen ihrer Armut oder der Gefährdung ihrer sozialen Kontakte und Beziehungen
für die, für die wir heute Geld zusammengelegt hätten: die reformierte Kirche in Ungarn, die es für ihre Flüchtlingsarbeit braucht und unsere Gemeinde, die Bedürftige hier unterstützt
für die Menschen, die auf der Flucht sind und an unseren Grenzen leiden und sterben – in Lagern in Griechenland und Bosnien, im Mittelmeer und dem Atlantik
für die Menschen, um die wir uns besonders sorgen

Vaterunser

Segen

Musik

Der Bibeltext stammt aus der Luther-Übersetzung von 1984, Heinrich Heine zitiere ich aus dem Insel-Taschenbuch 1628, herausgegeben von Helmut Schanze, Frankfurt 1994, Seiten 48 und 49. In meinem Text sind auch Ideen und Sätze von Prof. Dr. Gerd Theißen (2009)