Wie das Leben gelingt

Online-Andacht zum 13. Sonntag nach Trinitatis, 6. September 2020

Evangelium des Tages: Lukas 10, 25 – 37
Wochenlied: „Wenn das Brot, das wir teilen …“

Vorspiel / musikalische Einstimmung

I

Lukas erzählt:

Da war ein Mensch, der wollte wissen, wie sein Leben gelingt. „Was muss ich dazu tun?“, fragt er Jesus. Der antwortet, wie es jeder jüdische Lehrer getan hätte: „Zwei Dinge. Erstens: Liebe Gott. Zweitens: Liebe deinen Mitmenschen.“ Der Suchende fragt weiter: „Wer ist denn mein Mitmensch?“ Jesus antwortet mit einer genialen Geschichte, die seitdem zu den bekanntesten neutestamentlichen Geschichten überhaupt gehört: „Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab …“ Ihr kennt die Geschichte: Er wird überfallen, zusammengeschlagen und beraubt. Ein Frommer kommt vorbei, hilft nicht; noch einer, der auch nicht hilft. Der Dritte, von dem man nichts Gutes erwartet, der hilft: Wundversorgung, Krankentransport, Unterbringung bis zur Genesung. Der Clou der Geschichte: Suche nicht nach denen, die deine Mitmenschen sind, die du lieben sollst. In Wahrheit weißt du doch, wo du gebraucht wirst. Du hast genügend Menschen vor Augen, vor Ohren, in deinem Herzen, die deine Liebe brauchen. Suche nicht nach Mitmenschen, wer­de Mitmensch. Der Rest ergibt sich von selbst.

Melodie

II

Vor Augen, vor Ohren, im Herzen – was ich tun kann, damit ich nicht Mitmensch werde.

Es könnte ja sein, dass ich nicht Mitmensch werden möchte. Ich habe ein paar Ideen, wie ich vermeiden kann, Mitmensch zu werden.
Zum Beispiel bei weltweiter Migration. Wenn Menschen es schaffen, hierher zu kommen, sage ich ihnen: „Oh, in deiner Heimat konntest du nicht mehr leben? Wie schade. Im ersten Land, in das du kamst, hat man dir nicht geholfen? Wie schade. Im ersten europäischen Land auch nicht? Weißt du was: Ich bin nicht der dumme Dritte, der dir hilft. Geh zurück in das erste europäische Land, die dort sollen dir helfen. Oder besser noch: Geh zurück in dein Heimatland und warte dort auf Frieden und Wohlstand. Du bist nicht mein Nächster, du bist in Wirklichkeit ein Ferner.
Der Trick ist also ein Perspektivwechsel: Nicht ich will Mitmensch werden, sondern die andern sollen sich den Status als Mitmenschen erarbeiten.
Zum Beispiel durch Ausgrenzung. Der Trick ist genauso. Ich muss bloß glaubhaft machen. dass die anderen nicht Menschen sind wie ich. Bewährte Gesichtspunkte dabei sind: Andere Hautfarbe, körperliche Schäden, weniger Intellekt, falscher Geschmack, geringes Einkommen, „schwächeres Geschlecht“.

Strophe eins

Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht / und das Wort, das wir sprechen, als Lied erklingt, / dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut, / dann wohnt er schon in unserer Welt. / Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht / in der Liebe, die alles umfängt, / in der Liebe, die alles umfängt.

III

Lieber Pfarrer Schell: So einfach ist das nicht im wirklichen Leben! Das Leben ist kein Rosengarten!

Eine Legende aus dem dreizehnten Jahrhundert. Auf der Wartburg Landgraf Ludwig von Thüringen und Ehefrau Elisabeth, letztere in der Armenhilfe aktiv. In einer Wirtschaftskrise empfehlen die Ratsherren, das Geld besser zusammenzuhalten, Investitionen und Sozialausgaben zu kürzen. Als Elisabeth eines Tages in die Stadt geht, um den Armen Brot zu geben, obwohl gerade dies ihr unter Strafe verboten ist, trifft sie die Mutter ihres Mannes, die ihr eine Falle stellen will. Auf die Frage, was sie in dem Korb habe, den sie bei sich trägt, antwortet Elisabeth, es seien Rosen im Korb. Ihre Schwiegermutter bittet sie, das Tuch zu heben, um die wunderbaren Rosen sehen zu können. Widerwillig hebt Elisabeth das Tuch und im Korb liegen Rosen statt des Brotes für die Armen.

Wenn Brot geteilt wird, beginnt das Leben zu blühen, so erzählt es die Legende. Wenn Brot geteilt wird, ist Liebe im Spiel, tiefe, echte, ernsthafte Liebe. Denn für Liebe steht die Rose. Wenn Brot geteilt wird, entsteht etwas, das mehr ist als Hefe und Mehl.

Strophe drei

Wenn die Hand, die wir halten, uns selber hält / und das Kleid, das wir schenken, auch uns bedeckt, / dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut, / dann wohnt er schon in unserer Welt. / Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht / in der Liebe, die alles umfängt, / in der Liebe, die alles umfängt.

IV

Ja, es ist kompliziert.

Paris, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf Straßen und Plätzen pulsiert das Leben: Bürger und Künstler, Adelige und Bettler, Arme und Reiche. Auf dem Gehsteig der Rue Toullier hat schon seit Jahr und Tag eine Bettlerin ihren Stammplatz. Jeden Morgen kommt sie hierher, und abends verschwindet sie wieder. Hier lebt sie, lebt von nichts, „vom Staub, vom Ruß und vom Schmutz auf ihrer Oberfläche, von dem, was den Hunden aus den Zähnen fällt.“ – so der Dichter Rainer Maria Rilke in einem späteren Brief. Sie lebt von den wenigen Münzen, die sich im Laufe eines Tages in ihrer spröden Hand ansammeln. Manche stammen von Rilkes Begleiterin, sie gibt jedes Mal, wenn sie vorbeikommt. Und stellt den Dichter eines Nachmittags zur Rede: Er sei doch ein Dichter. Er müsse doch ein offenes Herz haben – nicht nur für das Angenehme, sondern auch für das Hässliche in seiner Umwelt. Seine Antwort: „Ihrem Herzen müssten wir schenken, nicht ihrer Hand.“ Wenige Tage später: Rilke legt eine eben aufgeblühte Rose in die leere Hand der Bettlerin. Die hebt den Kopf und sieht auf den Spender. Sie erhebt sich mühsam, tastet nach der Hand des fremden Mannes und küsst sie. Und eilt davon. In den nächsten Tagen bleibt der Platz der Bettlerin leer. Rilkes Bekannte ist beunruhigt: „Wovon lebt jetzt die Bettlerin? Wer gibt ihr Almosen? Ist sie krank? Vielleicht gestorben?“ Nach einer Woche ist die Bettlerin wieder da. Ausdruckslos und starr wie früher. Rilke nennt die Antwort auf die Frage, wovon sie lebte: „Von der Rose doch …“

Zu sehen, was Menschen brauchen, ist nur auf den ersten Blick leicht: Luft, Kleidung, Trinken, Essen, Schlaf. Unterkunft, Gesundheit, Schutz, Ordnung. Wenn ich Mitmensch, Mensch sein möchte, muss ich noch genauer hinsehen. Oder mal fragen: „Was / brauchst du jetzt?“

Mein Tipp für diesen Sonntag: Schau dir jeden Menschen, den du siehst, an mit dieser Frage im Herzen oder auf den Lippen: „Was / brauchst du jetzt?“ Die Verheißung ist: Dein Leben gelingt.

Strophe zwei

Wenn das Leid jedes Armen uns Christus zeigt / und die Not, die wir lindern, zur Freude wird, / dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut, / dann wohnt er schon in unserer Welt. / Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht / in der Liebe, die alles umfängt, / in der Liebe, die alles umfängt.

 

Diese Andacht mit Musik und Gesang (Thomas Tesche) auch auf dem YouTube-Kanal der Gemeinde https://www.youtube.com/channel/UC7l6E3AG58mnzyDAy99sBTg (Bitte beachten: YouTube sammelt Daten der Benutzer*innen)